Der Welt der kafkaschen Werke fehlt manchmal die historisch konkrete Situationskonstellation und diese Dekontextualisierung erschließt sowohl Parabolitat als auch verschiedene Interpretationsmoglichkeiten. Solche Vieldeutigkeit bzw. Polydimensionalitat ist auch auf Kafkas personliche Lebensbedingungen zuruckzufuhren. In diesem Zusammenhang erhalten seine Reisetagebucher, die er uber bestimmte Orte, Landschaften, Leute usw. geschrieben hat, einen besonderen Stellenwert. Die Reise als ein ?Weg-von-hier“ zielt fur Kafka darauf ab, aus seinem Alltag herauszukommen und etwas Neues, Fremdes zu erleben. Daher ist das zeitlich-raumlich Wahrgenommene und die Erinnerung in seinen Reisebeschreibungen mit der konkreten Wirklichkeit eng verbunden.
Die kafkaschen Tagebucher, einschließlich seiner Reisetagebucher, dienten in der Regel entweder als gute und authentische Materialien fur seine Werkinterpretationen, oder sie wurden des ofteren unter biografischen Gesichtspunkten behandelt, galten also nicht als eine selbstandige Gattung. Einige Forscher, wie F. Beißner, G. Guntermann und H. Korte, befassten sich mit den kafkaschen Tagebuchern und sie betrachteten manchmal diese Erinnerungen als eine Ubungsgelegenheit seines Schreibens oder als einen Reflexionsort. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass die Reisetagebucher auch als eine unmittelbare und reflektierte Beschreibung der Wirklichkeit asthetisch gestaltete Texte sind. Die Aufgabe besteht deshalb darin, diese Texte nicht nur in biografischer Hinsicht, sondern auch in asthetisch-formaler Hinsicht zu untersuchen. Die Analyse liegt dabei auf dem Schnittpunkt zwischen dem Sachlichen und dem Asthetischen. Zunachst geht es darum, die Reiseroute Kafkas empirisch zusammenzustellen und zu verfolgen. Von diesen Reisen sind die Reisen nach Friedland, Norditalien, Paris, in die Schweiz und jene nach Weimar in die kritische Ausgabe der Reisetagebucher aufgenommen. Diese Reisetagebucher sind zunachst unter folgenden Aspekten zu erforschen: Freundlichkeit, literarischer Wiederaufbruch, Stil von der entroutinisierten Alltagsbetrachtung und der Bezug auf einige der damaligen europaischen Gemalde (Sittengemalde). Die Untersuchung des letzten Aspektes ist relativ umfangreich und geht daher an einigen Stellen auch in die andere Arbeit uber die Reisetagebucher Kafkas uber. Die Untersuchung erfolgt mit biografischen, historischen, sozialen und asthetischen Analysemethoden, wobei diese entweder einzeln oder kombiniert zum Einsatz kommen.