"Immensee" hat, 1850 erschienen, dem angehenden Schriftsteller Storm einen großen Widerhall gebracht und ihm sein Leben lang den Ruf des "Autor(s) von 'Immensee'" verliehen, bis seine letzte Novelle "Der Schimmelreiter" seinen dichterischen Leistungen als Poetischer Realist noch eine weiteres unvergessliches Monument errichtete. Man konnte "Immensee" den Extrakt seiner fruhen Novellistik nennen; in der Hauptfigur Reinhardt verdichten sich die Charaktere der Erzahler und Erinnernden mit ihren Moglichkeiten und Grenzen am deutlichsten. Reinhardt ist eine Grenzfigur. Er scheint nirgendwohin und zu niemandem richtig zu gehoren und mit dem Ausleben des Burger-Daseins wie des Kunstler-Daseins nicht ganz zurecht zu kommen. Sein Charakter als Grenzfigur, "sich außerhalb des Zentrums, an der Peripherie" zu befinden, hat wiederum mit dem Exzentrischen des Sammlers viel zu tun. Reinhardt ist ein Sammler, der durch das Sammeln seine eigene Ordnung schafft. Er ist auch ein Erinnernder und Erzahler, der hinter dem anscheinend unbeteiligten Erzahler seine eigenen Erinnerungen erzahlt, und zwar mit seiner schopferischen Phantasie. Er ist schließlich eine Dichter-Figur, ein selbstzufriedener Einzelganger. Zu vergleichen sind die Erinnerten, namlich zwei gescheiterte Frauen und ein Vernachlassigter und Unterschatzter. Elisabeth ist zwar die weibliche Hauptfigur dieser Novelle, stellt aber nur den Erinnerungsgegenstand der mannlichen Hauptfigur dar, wie es in Storms fruhen Novellen ublich ist. Sie, die Vertreterin und zugleich das Opfer der burgerlichen Gesellschaft, wird als eine beschrieben, die nur passiv und zur Erinnerung unfahig ist. In der Erinnerung wird sie symbolisch - und der Realitat widersprechend - auch als eine weiße Wasserlilie wahrgenommen, die er nie erreichen kann. Sie ist einsam und unglucklich. Auch das Zigeunermadchen, das einst das Kunstlertum vertritt und mit Elisabeth und Reinhardt wenn auch symbolisch eine Dreieckskonstellation bildete, ist verfallen und Bettlerin geworden. Erich, Elisabeth's Mann, vetritt ein Erwerbsburger zum ersten Mal in Storms Novellen. Er wird als farblos und nebensachlich dargestellt, obwohl er die eigentliche Gegenfigur zu Reinhardt ist. Reinhardt ist von allen der Einziger, der sich als Beobachter und Erinnerunde mit der Vergangenheit auseinander zu setzen weiß und weiter die Zukunft gestalten kann. Die breite Popularitat und Beliebtheit wird von den Forschern in der Regel auf die angemessene Verarbeitung des Zeitgeistes, namlich der postrevolutionaren 'Katerstimmung' zuruckgefuhrt. Dadurch bezieht sich diese Novelle, die kein politisches Thema direkt erwahnt, indirekt auf die politische Ereignisse in Deutschland um 1850, u. a. auf das von den Danen unterdruckte Schleswig-Holstein. Uber den Grund ihrer Beliebtheit scheint die Novelle selbst zu reflektieren, und zwar in der Parallelisierung mit der Entstehung und Verbreitung der Volkslieder. Wie ein schones Volkslied, an dessen Herstellung jeder teilhaben und in dem jeder sein eigenes Erlebnis erkennen kann, ist diese melancholische Erinnerung von Reinhardt auch ein kollektives Produkt. Sie trifft namlich das Herz der Zeitgenossen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In einer Zeit, wo man den Glauben an eine "Einheit der Welt" nicht mehr behalten durfte, wo die burgerlichen Intellektuellen nach dem Zerfall der idealistischen Denkmodelle muhsam nach einem neuen moralischen Orientierungs punkt suchten, da schien ein Erinnernder im Herzen des Volkes zu erwachsen; Reinhardt, der ruhig beobachtet und nachdenkt, sammelt und erzahlt, der trotz bzw, wegen seiner Schwache einen Mittelweg als Dichter geht. Dass hier kein auktorialer Erzahler auftaucht, sondern sogar das Erzahlen seiner eigenen Geschichten "symptomatisch" und mangelhaft ist, entspricht auch der Unsicherheit und Unuberschaubarkeit, die die Zeitgenossen in der Gesellschaft erleben mussten.