Bekanntlich ist W. G. Sebald ein Meister der Intertextualitat ohnegleichen. Seine Werke stellen ein ausgearbeitetes Mosaikwerk dar, das aus zahlreichen verschiedenen Textstucken zusammengesetzt ist. Diese Montage- und Vernetzungsasthetik bezieht nicht nur den Bereich von Texten, sondern auch den von Bildern mit ein. So bildet neben Fotografie und Malerei auch der Film einen wichtigen, jedoch bisher nicht sehr beachteten Grundtext der erzahlerischen Werke Sebalds. Obwohl Sebald einige fundamentale Filmtechniken gerne als Erzahlmittel benutzt, lasst sich seine Beziehung zum Film nicht bloß unter der intermedialen Perspektive betrachten, sondern eher unter der intertexuellen, weil er Filme meistens auf der texutellen Ebene behandelt. Dabei ist eigentumlich, dass es sich fur Sebald bei der Intertexualitat nicht nur um eine asthetische Methode, sondern auch um eine ethische Behandlung der Geschichte handelt. Aus dem Bewusstsein, dass alle Dinge in der Geschichte miteinander zusammenhangen, entsteht eine unendliche Verantwortung fur die Geschichte, vor allem fur die deutsche Vergangenheit. In Sebalds Prosafiktion ?Austerlitz‘ kann man diese intertexuelle Beziehung am Beispiel von drei beruhmten Werken von Alain Resnais, dem franzosichen Cineast der Nouvelle Vague, untersuchen: ?L"Annee derniere a Marienbad‘, ?Toute la Memoire du Monde‘ und ?Nuit et brouillard‘. Mit Sebald teilt Resnais viele gemeinsame Interessen. Dieser setzte sich vom Beginn seiner Karriere an mit dem Problem des kollektiven Gedachtnisses intensiv auseinander und arbeitete mit vielen Autoren des Nouveau Romans zusammen, welche einen neuen, gegen die lineare und aufeinanderfolgende Zeit der traditionellen, meistens realistischen Narrative gerichteten Roman versuchten. Resnais" drei Filme bieten fur Sebald daher viele wichtige Bezugspunkte zum Darstellungsproblem von Zeit und Erinnerung an. Im Film ?L"Annee derniere a Marienbad‘ erscheint der Ort Marienbad als ein magisches Labyrinth, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht aufeinander folgen, sondern ineinander verschrankt sind. Auf ahnliche Weise ist in ?Austerlitz‘ Marienbad ein Ort, an dem die verlorene Vergangenheit des Titelhelden schlummert. ?Toute la Memoire du Monde‘, die die Pariser Nationalbibliothek als eine Festung oder ein Lager fur die gefangen genommenen Bucher darstellt, bildet in ?Austerlitz‘ einen Pratext zum Thema der Verwandtschaft zwischen Bibliothek und Konzentrationslager. Auch der Kurzfilm ?Nuit et brouillard‘ ist fur Sebald bedeutend, insofern er eine neue Behandlungsweise zum Holocaust, dem undarstellbaren und unvorstellbaren Gegenstand aufzeigt, indem die Geschichte als Spurensuche erzahlt und vorstellbar gemacht wird. Bei Sebald ist zu beachten, dass er diese Pratexte nicht einfach verwendet oder verarbeitet , sondern sie alle zu einem bestimmten Thema hin sorgfaltig ordnet, namlich dem Zwangslager, wo die Mutter Austerlitz‘ ermordet wurde. Diese Strategie ist es, die das Werk ?Austerlitz‘ von bisheriger autobiographischer Zeugenliteratur der judischen Uberlebenden oder sogenannten Holocaust-Romanen unterscheidet, in denen dramatische tragische Ereignisse mit viel Gefuhl erzahlt werden. Mit ?Austerlitz‘ schafft Sebald eine Welt, in der die scheinbar weit voneinander entfernt liegenden Dinge um das Ereignis Holocaust herum miteinander vernetzt sind. Daher ist Intertextualitat fur Sebald sowohl ein ethisches als auch ein asthetisches, erzahlerisches Verfahren zur Produzierung der Grundlage fur die Erkenntnis von Wahrheit der Geschichte.