Dimitré Dinev hat eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. Vor fast 20 Jahren floh der Absolvent eines deutschsprachigen Bertolt-Brecht-Gymnasiums in Bulgarien über die “grüne Grenze” nach Österreich. Eine der ersten Stationen war das Flüchtlingslager Traiskirchen. Es folgten harte Jahre in Wien. Neben Philosophie- und Russisch-Studium arbeitete er auf Baustellen und als Gärtner und Kellner. Nach der Arbeit war er als Übersetzer tätig. Aus seinen Erfahrungen heraus entwirft Dinev in dem 600 Seiten starken Roman Engelszungen (2003) ein lebenssattes Panorama bulgarischen Lebens sowie eine aberwitzige Chronik der bulgarischen Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und eine einfühlsame Schilderung eines Flüchtlingsschicksals. Die Hauptfiguren dieses Romans lassen auch die schmerzhaften Spuren eines nomadischen Lebens, eines Lebens außerhalb des vertrauten und gewohnten Herkunftslandes, erkennen. Dinev führt damit zum einen das kreative, ästhetische, aber auch gesellschaftspolitische Potential einer Position des gleichzeitigen Hier und Dort vor, einer Position, die nicht fixiert ist, sondern zwischen zwei und mehreren kulturellen Räumen und Traditionen wechselt. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sind nicht immer scharf gezogen, ebenso wenig wie die Trennlinie zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem, zwischen Erlebtem und Erinnertem, zwischen Leben und Tod. Darüber hinaus überschreitet er die Grenze zwischen den Genres, indem er Elemente des ‘magischen Realismus’ im Sinne von Gabriel Márquez mit sehr realistischen Schilderungen der sozialpolitischen sowie rechtlichen Situation von Flüchtlingen und der Tradition des volkstümlichen Erzählens auf dem Balkan vermischt. Und schließlich hat er selbst erfolgreich die sprachliche Grenze überschritten und schreibt nunmehr auf Deutsch. Und Deutsch ist damit seine Literatursprache geworden.
In seiner humorvollen Familiensaga erzählt er von Hirten und Partisanen, von verführerischen Sofioterinnen und skrupellosen KP-Apparatschiks, von prügelnden Geheimpolizisten und sturschädeligen Popen, von Pubertätsnöten und Liebeshändeln im Reiche Todor Schiffkoffs. Es sind menschliche Themen, die er in diesem Roman mit viel Witz und subtilem Humor abhandelt. Der Roman handelt vordergründig von zwei bulgarischen Familien und deren jüngsten Söhnen, Iskren Mladenov und Sveltjo Apostolov, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Bulgarien nach Wien auswandern. Zunächst wird von Iskren berichtet. Sein Vater ist ein hoher Beamter der bulgarischen Volksmiliz, und sein Großvater mütterlicherseits saß wegen fehlendem Klopapier schon einmal in einem Strafgefangenenlager der Miliz. Seine Großmutter übernimmt eigentlich die Erziehung, und nach ihrem Tod, und dem nahendem Ende des Kommunismus, entwickelt er eine äußerst kriminelle Neigung. Der andere Protagonist nennt sich Svetljo. Sein Vater ist der Folterknecht der Miliz, und sein Großvater väterlicherseits wird als großer Partisan gefeiert. In dieser Familie hat man nicht viel gesprochen, und so schweigt auch Svetljo jahrelang und stattdessen ist er eher in sich gekehrt. Er führt eine typische Schattenexistenz als Flüchtling wie der Autor selbst. Ohne Visum nach dem Zusammenbruch aus Bulgarien geflüchtet, schafft er im Dezember 1990 den Grenzübertritt nach Österreich. Danach hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, ist damit ständig der Gefahr ausgesetzt, ausgewiesen zu werden. Die beiden Väter der Hauptfiguren sind aus privaten Gründen zu Gegnern geworden, und so verwickeln sich die Lebensläufe der Heranwachsenden, wo immer wieder eine Figur aus dem jeweiligen anderen Stammbaum und Umfeld auftaucht, und unbewusst etwas im Leben der anderen Familie verändert. Dies geschieht zwar parallel, aber erst ganz zum Schluss lernen sich die beiden Protagonisten durch die Engelsfigur Miro kennen.
Dinev stellt mit seinen Texten kulturelle wie auch politische Grenzziehungen in Frage. Seine Texte überschreiten die oft allzu engen Grenzen kultureller und literarischer Räume und stellen Konzepte wie Nationalliteratur, aber auch die Stabilität von Identität, grundsätzlich in Frage. Obwohl er sich auf autobiographisches Verarbeiten der selbst erlebten Migrationserfahrungen festlegt, zeigt er, dass er die Grenze zwischen zwei Sprachen, zwischen kulturellen Räumen und Traditionen überschritten hat. Das ist eine Frucht der von entterritorialisierten Autoren geschriebenen sogenannten (Migranten-)Literatur.